Frankfurt/Main – Über 10.000 Kranke warten laut Vermittlungsstelle Eurotransplant in Deutschland auf ein Spenderorgan. «Täglich sterben statistisch gesehen drei von ihnen, weil für sie nicht rechtzeitig ein passendes Organ verfügbar ist», weiß die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO).
Auf eine Niere – das am häufigsten benötigte Spenderorgan – warten etwa viermal so viele Menschen, wie es Organe gibt. Durchschnittliche Wartezeit: etwa sechs Jahre.
Derzeit sieht es nicht so aus, als würde sich die Situation der Betroffenen bald verbessern: 2017 hat die Zahl der Organspender in Deutschland einen neuen Tiefpunkt erreicht. Laut
DSO gab es nur noch 797 Spender – nochmal 60 weniger als im Vorjahr. Das war der niedrigste Stand seit 20 Jahren. In Deutschland gibt es jetzt weniger als zehn Spender pro eine Million Einwohner. Axel Rahmel, medizinischer Vorstand der DSO, spricht von «einer dramatischen Entwicklung».
Europaweit führend ist Spanien mit 46,9 Spendern pro eine Million Einwohner im Jahr. Dort gilt die sogenannte Widerspruchslösung: Menschen müssen es explizit dokumentieren, wenn sie gegen eine Organentnahme nach ihrem Tod sind, sonst werden sie automatisch zum Spender. So ist es auch in Italien, Norwegen, Schweden, Luxemburg, Österreich und Frankreich geregelt.
Das jüngste Land in der Reihe ist die Niederlande. Hier wurde eine solche Regelung im Februar von der ersten Kammer des Parlaments angenommen – wenn auch nach langer Debatte und nur mit knapper Mehrheit. Jetzt wird jeder volljährige Bürger automatisch als Organspender registriert. Wer das ablehnt, muss sich melden.
Seither werden die Stimmen lauter, die auch in Deutschland eine Widerspruchslösung fordern. «Die Niederländer haben reagiert, und zwar lange bevor die Situation so prekär wurde wie bei uns», sagt der Generalsekretär der Deutschen Transplantationsgesellschaft (DTG), Christian Hugo: «Ich wünsche mir ähnlich mutige Politiker im Bundestag wie in Holland.»
Viele Mediziner sind auf seiner Seite. Der Deutsche Ärztetag in Erfurt hat sich Anfang Mai klar für die Widerspruchslösung ausgesprochen. «Aus medizinischer Sicht, vor allem aber aus Sicht der vielen schwerkranken Patienten auf der Warteliste wäre eine solche Regelung der Idealfall», sagte Frank Ulrich Montgomery, Präsident der Bundesärztekammer, der Deutschen Presse-Agentur.
«Man sollte von den Bürgerinnen und Bürgern verlangen können, dass sie sich nach der gesetzlich vorgeschriebenen Aufklärung durch die Krankenkassen mit der Problematik auseinandersetzen und im Falle einer Ablehnung ihr Nein zur Organspende formulieren.» Vorher müssten «mit großer Sensibilität» ethische, religiöse und rechtliche Fragen diskutiert werden. Man dürfe nicht riskieren, dass die Menschen weiter verunsichert werden und sich am Ende komplett verschließen.
Erklärter Befürworter einer Widerspruchslösung ist auch der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach. «Für mich ist das ganz klar die Lösung, die ich bevorzuge – als Politiker und als Arzt», sagte er der dpa. «Wir könnten damit so vielen Menschen den Tod ersparen oder ein besseres Leben ermöglichen.» Politisch «sollten wir uns in diese Richtung bewegen», gesellschaftlich «sollten wir diese Diskussion führen».
Dass sich Deutschland schwerer tut mit einer Widerspruchslösung als seine Nachbarländer, liegt seiner Ansicht nach daran, «dass in Deutschland das Misstrauen gegen den Staat und seine Institutionen besonders stark ist». Ob in der laufenden Legislaturperiode eine Änderung realistisch ist, ist fraglich. «Ich persönlich werde alles, was ich kann, dafür tun», verspricht Lauterbach.
Kritisch steht einer Widerspruchregelung Rudolf Henke gegenüber, der Vorsitzende der Ärzte-Gewerkschaft Marburger Bund. Das Transplantationswesen lebe vom Vertrauen der Menschen – und Henke glaubt nicht, dass das Vertrauen durch eine Widerspruchslösung gestärkt wird: «Es ist eher das Gegenteil zu befürchten.» Es habe wenig Sinn, «eine große Kontroverse anzuzetteln»: «Man muss mit den Leuten reden, sie überzeugen und die Organisation der Organtransplantation in den Kliniken verbessern.»
Die überwiegende Mehrheit der Deutschen steht dem Thema
Organspende – jüngsten Skandalen bei der Vergabe von Organen zum Trotz – zugewandt gegenüber. 84 Prozent sehen Organspenden «eher positiv», wie eine neue Umfrage der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) ergab. Die Positiv-Antworten steigen von Jahr zu Jahr. 36 Prozent der Bevölkerung besitzen laut
BZgA einen Organspendeausweis. 72 Prozent dieser Ausweisbesitzer willigen in eine Organspende nach dem Tod ein.
Zuletzt wurde vor sechs Jahren etwas geändert: Seit November 2012 gilt die sogenannte Entscheidungslösung. Die Krankenkassen müssen ihre Mitglieder regelmäßig anschreiben und informieren – das ist alles. Eine Aktion, die nach Schätzung des Spitzenverbands der gesetzlichen Kassen alle zwei Jahre grob geschätzt rund 60 Millionen Euro kostet. Bisher landen Broschüren bei vielen Menschen vermutlich ungelesen im Altpapier. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) ruft denn auch dazu auf, dass sich mehr Menschen mit dem wichtigen Thema beschäftigen: «Sich mit der Organspende auseinanderzusetzen, muss für uns alle zur Selbstverständlichkeit werden.»
Dass die Zahl der gespendeten Organe weiter zurückging, ist für die Transplantationsgesellschaft ein Beweis, «dass diese Lösung nicht greift». Um mehr Menschen zu sensibilisieren, gibt es einen jährlichen
Tag der Organspende – diesmal am 2. Juni in Saarbrücken.
Auch über 60-Jährige kommen als Organspender infrage
Wer bereit ist, im Todesfall Organe zu spenden, sollte auch jenseits der 60 einen Spendeausweis bei sich tragen. Darauf weist die Deutsche Herzstiftung hin. Es gebe keine Altersgrenze für Spender, sagt Prof. Friedhelm Beyersdorf, Ärztlicher Direktor des Universitäts-Herzzentrums Freiburg – Bad Krozingen. Entscheidend sei der biologische Zustand des Spenderorgans. Für die Zuordnung zu einem Empfänger sind daneben auch die Blutgruppe, Körpergröße und das Gewicht wichtig.
Als Herzspender kommt lediglich nicht infrage, wer schon eine Bypass-, Herzklappen-OP oder den Einsatz von Herzkranzgefäßstützen – sogenannten Stents – hinter sich hat. Herzverpflanzungen von Spendern über 65 seien außerdem generell schwieriger. Hier müsse jedes Transplantationszentrum selbst über den Zustand des Organs befinden und dann entscheiden, ob es verwendet werden kann, sagt Beyersdorf.
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(dpa)