Witten – Bei den Milchzähnen war die Welt noch in Ordnung – bei den bleibenden Beißerchen aber plötzlich gar nicht mehr. Unschöne Verfärbungen, Furchen, eine raue Oberfläche, dazu Schmerzempfindlichkeit, die jedes Putzen zur Tortur macht.
Kreidezähne heißt das Phänomen, Fachleute sprechen von Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation (MIH).
Das Problem dabei: Niemand weiß so recht, woher die Krankheit kommt – und damit auch nicht, wie sie sich verhindern lässt. Gleichzeitig steigt die Zahl der Betroffenen: 28,7 Prozent der Zwölfjährigen haben Kreidezähne beziehungsweise MIH – und das bei einer Krankheit, die erst 1987 zum ersten Mal diagnostiziert wurde. Das geht aus der
Fünften Deutschen Mundgesundheitsstudie (DMS V) von 2016 hervor.
Wie neu sind die Kreidezähne wirklich?
«Bei so einer Häufigkeit kann man schon von einer Volkskrankheit sprechen», sagt Prof. Stefan Zimmer, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Präventivzahnmedizin (DGPZM). Doch selbst über diese Zahlen – beziehungsweise über ihre Interpretation – streiten die Experten: Gibt es wirklich mehr Fälle von Kreidezähnen? Oder fallen sie nur mehr auf?
Der Gedanke dahinter: MIH ist an Zähnen nur dann gut zu erkennen, wenn sie kariesfrei sind, erklärt Prof. Dietmar Oesterreich, Vizepräsident der Bundeszahnärztekammer. Und während die Zahl der Kreidezähne deutlich gestiegen ist, geht die Zahl der Kariesfälle bei Kindern und Jugendlichen seit Jahren massiv zurück.
Mancher Experte vermutet da, dass es die Krankheit schon vorher gab – nur unerkannt. Andere sind da vorsichtiger: «Ich glaube, das ist eine Krankheit, die neu aufgetreten ist», sagt Zimmer. «Es gab auch in den 80er Jahren kariesfreie Zähne, und die Schneidezähne waren früher oft gesund – und die MIH trifft ja genau da auf.»
Sonnenschutz oder Plastik: Wer ist schuld?
Ähnlich umstritten ist auch die Frage nach den Ursachen der Krankheit. Einig sind sich Experten vor allem darüber, dass man nichts genau weiß. «Einen klaren kausalen Zusammenhang hat man bisher nicht gefunden», sagt Oesterreich. «Es wird zwar viel über Umwelteinflüsse diskutiert – aber ob das wirklich eine Ursache ist, darüber kann man derzeit nur spekulieren.»
«Man muss überlegen: Was hat sich an Umweltbedingungen, an unserer Ernährung so drastisch geändert, das diese inzwischen enorme Zahl an MIH-Zähnen erklären kann», erklärt Stefan Zimmer. «Das ist ja auch kein lokales Phänomen, das gibt es weltweit.»
Daher kommen vor allem zwei Phänomene in Frage, sagt Zimmer: Erstens ein Vitamin-D-Mangel, ausgelöst durch weniger Aufenthalt in der Sonne und viel mehr Sonnenschutz, vor allem bei den Kleinen. «Eltern sind da heute extrem vorsichtig mit Sonnenexposition ihrer Kinder, Sonnenschutzmittel haben heute viel höhere Lichtschutzfaktoren.»
Die zweite populäre Erklärung: Plastikflaschen. Denn aus denen wird seit den 80er und 90er Jahren deutlich häufiger getrunken als vorher, erklärt Zimmer – genau in dem Zeitraum also, in dem die ersten Fälle von MIH diagnostiziert wurden. Als möglicher Auslöser gilt zum Beispiel Bisphenol A (BPA), das manchmal bei der Herstellung der Flaschen zum Einsatz kommt. Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) hält diesen Zusammenhang allerdings für
unwahrscheinlich.
Früh gebildet – aber spät entdeckt
Erschwert wird die Ursachenforschung noch dadurch, dass zwischen dem Beginn der Krankheit und ihrer Diagnose oft Jahre legen. Denn in den meisten Fällen tritt MIH erst und nur an den bleibenden Zähnen auf. Entdeckt werden die Kreidezähne also erst, wenn die betroffenen Beißer durchbrechen. Gebildet werden sie, beziehungsweise ihr Schmelz – und damit auch die Krankheit – aber schon sehr viel früher, in den ersten Lebensjahren nämlich. «Wenn man die MIH sieht, ist es schon passiert», so Zimmer.
Verhindern lässt sich die Krankheit also kaum – aber behandeln. Der erste Schritt dabei: nicht in Panik verfallen. Denn nicht jede Verfärbung ist ein Anzeichen für Kreidezähne.
«Die MIH tritt bei Kindern in der Regel nur an den bleibenden Frontzähnen und an den ersten bleibenden Molaren auf», erklärt Oesterreich. Die ersten Molare sind die großen bleibenden Backenzähne, die in der Regel zuerst durchbrechen. Verfärbt sich ein anderer Zahn, steckt also meistens keine MIH dahinter. «Und auch an den sonst betroffenen Zähnen können Veränderungen andere Ursachen haben.»
Nicht jeder Kreidezahn muss unter den Bohrer
Selbst wenn an einem Zahn tatsächlich MIH diagnostiziert wird, ist sie deshalb noch lange nicht behandlungswürdig. Nur bei etwa fünf Prozent der betroffenen Zwölfjährigen sei die Krankheit so ausgeprägt, dass man tatsächlich etwas tun muss, erklärt Oesterreich. «Die anderen haben zwar Verfärbungen, aber daraus folgt nicht unbedingt eine Therapie – kein Zahnarzt wird dafür einen Bohrer in die Hand nehmen.»
Zum Arzt gehen sollten Eltern mit verfärbten Zähnen aber trotzdem, zur Sicherheit. Ein Spezialist muss es nicht sein. «MIH ist Bestandteil der Ausbildung für Zahnärzte, es gibt zahlreiche Fortbildungen dazu», sagt Oesterreich. «Jeder Zahnarzt ist heute in der Lage, die Krankheit zu erkennen und zu behandeln.»
Behandlungswürdig ist MIH vor allem dann, wenn neben den Verfärbungen ein sogenannter Schmelzeinbruch auftritt. Denn damit steigt auch die Schmerzempfindlichkeit der Zähne. Erste Gegenmaßnahme ist dann in der Regel, die betroffenen Zähne mit Kunststoff zu füllen und gezielt Fluoride einzusetzen, so Oesterreich.
In seltenen Fällen ist der Zahn aber auch so schwer beschädigt, dass er raus muss. Bei Kindern und Jugendlichen geht das in der Regel noch ganz gut, erklärt der Experte: «Man hat heute auch die Möglichkeit, das kieferorthopädisch zu behandeln – die Zähne also zu entfernen und die entstandene Lücke durch kieferorthopädische Maßnahmen mit anderen bleibenden Zähnen zu schließen.»
Beobachten – und konsequent putzen
Bleibt es bei den Verfärbungen, ist MIH meistens nur ein ästhetisches Problem – und das wird gerade im Kinder- und Jugendalter eher nicht behandelt, sagt Oesterreich. Fluoridlack kann dabei helfen, den Zähnen beim Wiedereinbau von Mineralien zu helfen. Bei allen weiteren Maßnahmen sei das Risiko aber zu groß, den Zahn zu beschädigen.
Gute Mundhygiene ist immer wichtig. Und gerade bei MIH müssen Eltern darauf achten. Denn sonst wird aus den meist harmlosen Verfärbungen schnell Schlimmeres, erklärt Zimmer – unter anderem, weil die raue Oberfläche die Kreidezähne deutlich anfälliger macht: «Die Zähne sind empfindlich, Kinder wollen die nicht putzen, dann bildet sich darauf ruckzuck noch eine Karies.»
Fotocredits: Patrick Pleul,Patrick Seeger,Georg J. Lopata/axentis.de
(dpa/tmn)