Dortmund (dpa/tmn) – Oft fällt es den Erziehern zuerst auf. Die Eltern können es kaum glauben: Zu Hause eine kleine Quasselstrippe, spricht ihre Tochter auch nach mehreren Monaten im Kindergarten kein Wort. «Natürlich reagieren Eltern besorgt», sagt Katja Subellok.
Subellok ist Leiterin des Sprachtherapeutischen Ambulatoriums der
TU Dortmund und des dort angesiedelten Dortmunder Mutismus Zentrums. Tatsächlich ist es nicht «normal», wenn Kinder an bestimmten Orten gar nicht sprechen. Die gute Nachricht ist aber: Bekommen sie Hilfe, können sie das Gespenst des Schweigens nach und nach vertreiben.
Das Mutismus Zentrum geht von 0,7 bis 1 Prozent selektiv mutistischer Kinder in Deutschland aus. «Selektiv» heißt: Die Betroffenen schweigen in bestimmten sozialen Situationen, während sie in anderen unbefangen reden können. Aber woher weiß man nun, ob das Kind selektiv mutistisch oder einfach schüchtern ist? Ein Indiz ist die Dauer, sagt Julia Reimelt, Vorstandsmitglied und Sprecherin des Vereins Stillleben. «Eine Eingewöhnung in der Kita kann zwei bis drei Monate dauern, aber wenn das Kind dann immer noch gar nicht spricht, sollte man schon genauer hingucken.»
Was in einem selektiv mutistischen Kind während einer Sprechblockade vorgeht, vergleicht Katja Subellok mit einer Panikattacke. «Mutismus ist wie eine Erstarrung. Diese Kinder haben weder eine Flucht- noch eine Aggressionstendenz. Sie sind handlungsunfähig und werden unter Umständen ganz leer im Kopf. Sie spüren auch keine Angst.»
Auch das ist ein Unterschied zur Schüchternheit. «Ein Kind, was sprechängstlich ist, kann Ihnen sagen: „Ich habe Angst, vor der Gruppe zu sprechen.“ Ein mutistisches Kind kann das nicht», sagt Subellok. Die genaue Ursache der Störung ist nicht eindeutig geklärt. Die genetische Veranlagung scheint wesentlich zu sein: Oft haben weitere Familienmitglieder ähnliche Symptome.
Hat sich der Anfangsverdacht auf selektiven Mutismus bei ihrem Kind erhärtet, sollten Eltern Hilfe suchen – je früher, desto besser. Dem Impuls, Druck zu machen, gibt man besser nicht nach. «Auf keinen Fall fragen: „Warum sprichst du denn nicht, du kannst das doch?“», warnt Subellok. Es sei erstmal wichtig, den Kindern zu vermitteln: «Natürlich kannst du sprechen, manchmal fällt es dir noch schwer, aber das kann man lernen, und wir können uns da auch Hilfe suchen.»
Reimelt empfiehlt Sprachtherapeuten, Atem-, Sprech- und Stimmlehrer, Logopäden oder Psychotherapeuten. Therapeuten finden Eltern über die Netzwerke des
Vereins Stillleben und des
Dortmunder Mutismus Zentrums. Für eine Sprachtherapie muss der Kinderarzt eine Verordnung ausstellen.
Darauf, dass sich die Zunge irgendwann von allein löst, sollte man dagegen besser nicht warten. Auch wenn es diese Fälle gibt, hat Katja Subellok die Erfahrung gemacht, dass sich die Probleme eher verfestigen. «Je länger das Schweigen andauert, desto schwieriger wird es.»
Je nach Schweregrad brauchen Eltern viel Geduld. In Dortmund arbeiten die Therapeuten bei Kita-Kindern gern mit Handpuppen. Bei Schulkindern kommt das Thema «Schweigen» an sich zur Sprache. Stück für Stück arbeiten sich die Therapeuten mit den Kindern vor: «Das Kind soll die Schritte machen, wo es das Gefühl hat, sie bewältigen zu können», so Katja Subellok.
Je größer der Mut wird, desto mehr schwindet das Schweigen – das erlebt Petra Frießnegg vom Verein Mutismus Selbsthilfe Deutschland in der Therapie immer wieder. «Kleine Kinder malen Bilder mit Gespenstern, das symbolisiert den Mutismus. Am Anfang der Therapie ist das Kind ganz klein und das Gespenst riesig», erklärt die Logopädin aus Hoyerswerda. «Je weiter wir arbeiten, desto kleiner wird das Gespenst und desto größer das Kind. Wenn dieser Punkt erreicht ist, verbrennen wir das erste Bild, damit wir wissen: Da müssen wir nie wieder hin zurück, das gibt’s nicht mehr.»
Fotocredits: Westend61,Detlef Reimelt,Andreas Rümke
(dpa)