Frankfurt(dpa) – Vogelgezwitscher, Sonne und Wind: Gerd Alexander Unglaube freut sich seines Lebens. «Ich genieße jeden Tag, als wenn es mein letzter wäre», sagt der 56-Jährige.
Der HNO-Arzt mit eigener Praxis in Frankfurt am Main hat Familie, vier Kinder – und einen ganz speziellen Freund: seinen genetischen Zwilling. Die Stammzellen des Engländers retteten vor drei Jahrzehnten das Leben des an chronischer myeloischer Leukämie (CML) erkrankten jungen Medizinstudenten, der kurz vor seiner Zulassung als Arzt stand. «Ohne seine Spende wäre ich längst tot.»
Auch an diesem Freitag (28. Juli) wird er mit dem Mann feiern, der ihm das Leben neu schenkte. Es ist auch ein Jubiläum für die Medizin: der 30. Jahrestag der ersten erfolgreichen sogenannten unverwandten Knochenmarktransplantation in Deutschland. «Er ist der erste deutsche Patient, der die Übertragung von Stammzellen eines Fremden langfristig überlebt hat», sagt der am Universitätsklinikum Dresden tätige Hämatologe Gerhard Ehninger.
Als Leiter der Transplantationseinheit Tübingen wagte Ehninger im Sommer 1987 die Therapie bei Unglaube – gegen Widerstände und mit Risiko. Bei dem 26-Jährigen hatte die normale CML-Behandlung nicht angeschlagen. «Er war in einem späten Krankheitsstadium und hatte eine 50-prozentige Überlebenschance», erinnert sich Ehninger. Allerdings waren mit fremdem Knochenmark Transplantierte bisher an Abstoßungsreaktionen gestorben.
«Ich stand mit dem Rücken zur Wand», sagt Unglaube, der selbst fieberhaft nach Therapien für sich suchte. In der damals größten Knochenmarkspenderdatei in London fanden sich sogar drei identische Spender, er konnte wählen. Die Übertragung des unverwandten Materials aber blieb ein Wagnis. «Als das Knochenmark anging und der Körper wieder Zellen produzierte, war die Erleichterung groß.»
Der Erfolg bestärkte Ehninger und seine Mitstreiter im Aufbau eines deutschen Spenderpools: Die Deutsche Knochenmarkspenderdatei (DKMS) wurde 1991 gegründet. Mit aktuell weltweit rund 7,5 registrierten Spendern, knapp 5,2 Millionen in Deutschland, ist sie die größte Fremdspenderdatei. Laut dem
Zentralen Knochenmarkspender-Register (ZKRD) sind aktuell mehr als 7,5 Millionen Spender bundesweit erfasst – weltweit sind es fast 31 Millionen.
Laut Ehninger werden zwischen 9000 und 10 000 Menschen pro Jahr in der Welt unverwandt transplantiert. «40 Prozent der Fremdspender kommen aus Deutschland.» Die verbesserte Typisierung – der Test von mittlerweile zehn Gewebemerkmalen bis in Untergruppen – minimiert Komplikationen. «Wenn die Patienten rechtzeitig kommen, sind drei von vier langfristig krankheitsfrei, später nur noch jeder Zweite.» Chemotherapie und Bestrahlung, die unter anderem das Immunsystem des Patienten schwächen, sollen Abstoßungsreaktionen verhindern. «Das hat man sich früher nicht getraut.»
Inzwischen ist das Ergebnis einer unverwandten so gut wie das einer verwandten Knochenmarktransplantation, die Überlebenschancen reichen bis 90 Prozent. Eingesetzt wird sie bei akuten und chronischen
Leukämien, Knochenmarkversagen, Lymphknotenkrebs, Immundefekten und ererbten Stoffwechselerkrankungen. Die im Knochenmark befindlichen Blutstammzellen werden entweder mit einer Spritze daraus entnommen oder der Spender bekommt ein Medikament, mit dem sie ins Blut gelockt und mit Maschinen herausgefiltert werden. Die Übertragung erfolgt wie eine Bluttransfusion in eine Vene oder per Katheter direkt in die Hauptvene vor dem Herz.
Pro Jahr erfolgen knapp 3000 Knochenmarktransplantationen in den deutschen Zentren – inzwischen meist mit direkt aus dem Blut gefilterten Stammzellen, wie der Ärztliche Leiter und Mitbegründer des Zentralen Knochenmarkspender-Registers für die Bundesrepublik (ZKRD), Carlheinz Müller, sagt. Nur noch in weniger als 20 Prozent der Fälle erfolgt die Entnahme direkt aus dem Knochenmark.
Bei CML gebe es inzwischen relativ gute medikamentöse Behandlungen, es werde nur noch transplantiert, wenn diese versagen, sagt Ehninger. So wie einst bei Unglaube. «Er ist der erste deutsche Patient, der langfristig nach unverwandter Transplantation ohne Krankheitszeichen ist.» Geholfen habe sicher seine körperliche Fitness, das fachliche Mittun und sein Kampf für die Behandlungen. «Er hat nie Kopf in den Sand gesteckt.»
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(dpa)