Berlin – Dreimal niesen oder röcheln bei der Arbeit reicht oft schon – und die Kollegen geben jede Menge Tipps: Welcher Tee lindert Schmerzen, welches Medikament oder Hausmittel hilft, wovon die Finger lassen, welchen Arzt konsultieren.
Doch wer würde im Büro um Rat bitten, wenn es am After juckt oder der Stuhl tagelang breiig ist? Über den Darm und das, was ihn verlässt, wird kaum gesprochen. «Der Darm ist in unserer Gesellschaft leider ein Tabuthema», sagt Christian Trautwein von der Deutschen Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten
(DGVS).
«Das liegt sicher daran, dass er in Verbindung mit dem Stuhlgang ein schmutziges Image hat. Es hat viel mit Ästhetik zu tun.» Im Alter könnten viele Patienten den Analbereich nicht mehr ausreichend kontrollieren. Die Suche nach einer nahen Toilette werde manchmal zur Qual, die Hose bleibe nicht immer trocken. «Da spricht man nicht gerne drüber», so Trautwein.
Dabei spiegele der Darm viele Faktoren der Umwelt wider: Selbst psychische Erkrankungen könnten sich auf ihn auswirken. «Im Bauchraum finden sich fast so viele Nervenfasern wie im Hirn, daher spricht mach auch vom Bauchhirn», sagt der Mediziner vom Uniklinikum Aachen.
Auf der anderen Seite hätten schlechte Ernährung, Übergewicht und Darmprobleme direkte Auswirkungen auf den ganzen Körper. Das betreffe etwa Tumorerkrankungen, die Verkalkung der Gefäße bis hin zu Herzinfarkt und Schlaganfall. Eine einfache Regel laute etwa: je mehr Bewegung, desto weniger Dickdarmkrebs. Schon mit sechs Stunden Aktivität pro Woche sinke das Darmkrebsrisiko deutlich.
Früher war weniger Tabu: Die Römer plauderten auf ihren Latrinen. Der französische Sonnenkönig Ludwig XIV. erledigte seinen Stuhlgang schon mal während offizieller Audienzen – und es galt sogar als besondere Ehre, ihm dabei zuzusehen. Schon die alten Ägypter hatten toilettenartige Einrichtungen, wie Kunsthistorikerin
Martina Padbergerklärt, die Ausstellungen zum Thema Toilette kuratiert hat. Gerade die Kunst greift dieses Sujet immer wieder auf.
So entwickelte der Künstler Wim Delvoye eine zwölf Meter lange Maschine namens «Cloaca», die die Verdauung nachahmt. Anfang 2018 widmete sich die Ausstellung «Drauf geschissen» im brandenburgischen Storkow Klosetts. Und vergangenes Jahr war in Nürnberg im Rahmen der Schau «Besetzt! Geschichten aus dem stillen Örtchen» ein Toilettenhäuschen voller Synonyme zu sehen, mit denen Menschen den Klogang beschreiben: mal derb wie «kacken», mal peinlich-distanziert mit «ein Ei legen» oder «die Boa würgen». Kunst thematisiere gezielt das Hässliche oder greife es ironisierend auf, erklärt Padberg.
Und sie erläutert: «Scham kann man sich erst leisten, wenn es die technischen Voraussetzungen gibt, sich zurückzuziehen.» Im Mittelalter verrichteten die Menschen ihr Geschäft in einen Nachttopf und schütteten es in die Gosse. Erhöhte Holzschuhe ermöglichten es ihnen, nicht mit den Fäkalien in Berührung zu kommen. «Man wusste, dass der Kontakt ungesund ist. Das ist ein Abfallprodukt des Körpers», sagt Padberg. Zugleich waren positive Effekte wie der Einsatz von Urin beim Gerben oder als Düngemittel bekannt.
Als sich die bürgerliche Gesellschaft entwickelte, änderte sich das: Auf Darstellungen aus dem späten 16. Jahrhundert bekomme Stuhlgang etwas Derbes und werde Bauern zugeordnet, so Padberg. «Aufgeräumtheit und Sauberkeit wurden zum Maßstab, die sprichwörtliche bürgerliche Ordnung.» Wo die Hochkultur nicht so weit entwickelt ist, werde das Ausscheiden noch heute unorganisierter verrichtet. So machen auch die Vereinten Nationen mit dem Welt-Toilettentag am 19. November auf Hygiene-Missstände aufmerksam, weil 4,5 Milliarden Menschen ohne eine Toilette im Haushalt leben, die ihre Abfälle sicher entsorgt. Padberg macht deutlich: «Wir sind in einer absoluten Luxussituation.»
Wie die DGVS wirbt auch sie für einen offeneren Umgang mit dem Thema. «Das wäre gut für Menschen, die Probleme haben mit Inkontinenz oder einem künstlichen Darmausgang.» Oder Pfleger müssten zum Beispiel den Umgang mit Gerüchen lernen, Zu-Pflegende stellten sich die Frage, wie sie ihre Würde behalten könnten. «Wenn das eine gesellschaftliche Debatte wird, kann es da Bewegung geben.» So sei es bei Kondomen gewesen – ein schambehaftetes Thema, bis es Aids gab.
Der Umgang mit Bauchraum und Stuhlgang wurde nicht zuletzt durch das Buch
«Darm mit Charme» lockerer. Autorin Giulia Enders berichtet: «Da gab es die portugiesische Journalistin, die mir gesteht, sie hätte sich das erste Mal in ihrem Leben umgedreht und in ihre Toilette geschaut.» Eine Frau habe weniger mit Migräne zu tun, nachdem sie ihre Verstopfung besser behandeln konnte. «Auch wenn ich auf Partys mit schicken Damen über ihre Bauchprobleme nachgrübele, war ich oft beeindruckt von der Lockerheit und Neugier.» Das Buch hat sich über acht Ausgaben bisher 2,28 Millionen Mal verkauft.
Auch über das Internet bekämen Patienten viele Informationen, sagt DGVS-Mann Trautwein. Daher gebe es einen klaren Unterschied zwischen den Altersgruppen beim Umgang mit solchen Themen: «Jüngere sind da offener.» Zudem interessierten sie sich mehr für gesunde Ernährung. «Und dadurch entsteht eine direkte Verbindung zu Magen und Darm.»
Wichtig sei mehr Aufklärung, vor allem über Präventionsstrategien, meint der Experte – und sieht die Politik in der Pflicht. Sie müsse unter anderem dafür sorgen, dass mehr Menschen zur Darmspiegelung gehen, aber auch neue Möglichkeiten eröffnen, um die Bevölkerung vor chronischen Erkrankungen und Krebs zu schützen. Insbesondere der Zusammenhang zwischen Verdauungsorganen und chronischen Erkrankungen sollte besser erforscht werden.
Fotocredits: Monique Wüstenhagen
(dpa)