Berlin (dpa/tmn) – Die Zahl 58 löst in Oliver Sechting Angst aus. Sie lähmt ihn, macht ihn handlungsunfähig. Innerhalb einer Stunde bekommt er Phantomschmerzen im Bein. In seiner Jugend sieht er einen Fernsehbericht über Skiunfälle, in dem die 58 auftaucht.
Seither verbindet er die Zahl mit gebrochenen Armen und Beinen. In seinem Kopf läuft ständig ein Hintergrundprogramm ab. Es teilt seine Welt in positiv und negativ. Sieht er eine negative Zahl, muss er sie neutralisieren, um ein Unglück zu vermeiden – indem er etwa die Zahl sieben auf ein Blatt Papier schreibt. Auch Farben, Namen und Gegenstände sind im Zwangssystem des heute 40-Jährigen kategorisiert.
«Bei einer Zwangsstörung werden bestimmte Gedanken oder Handlungen zwanghaft wiederholt, so dass es die Betroffenen als unangenehm und belastend wahrnehmen», erklärt Prof. Peter Falkai, Leiter der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Obwohl weniger bekannt, gebe es mehr Menschen mit reinen Zwangsgedanken als mit Zwangshandlungen, wie dem Waschzwang.
Erste Anzeichen zeigen sich oft schon im Kindes- oder Jugendalter. Prof. Ulrich Voderholzer, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und ärztlicher Direktor der Schön Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee, erklärt: «Auslöser für eine Zwangsstörung können traumatische Ereignisse sein, zum Beispiel eine starke Verunsicherung oder der Verlust des familiären Zusammenhalts.» Ähnlich ist es bei Sechting: Als er elf ist, stirbt sein Vater.
Schon früher vermeidet er es, auf die Fugen zwischen Pflastersteinen zu treten – es beginnt als Spiel. Doch plötzlich keimt in ihm der Gedanke: Auf eine Fuge treten könnte den Tod seiner Mutter zur Folge haben. Er spricht aus Scham mit niemandem über seine Ängste und Gedanken. Und das Fugenüberspringen wird zwanghaft. «Der Zwang wirkt wie eine Kompensation, um die äußere Verunsicherung durch eine innere Struktur auszugleichen», erklärt Voderholzer.
Schon bald entwickelt Sechting weitere Zwangsgedanken. Die Ängste kreisen mit zunehmendem Alter mehr um seine eigene Person als um seine Mutter. Die Befürchtung hinter all seinen Zwangsgedanken: Er vereinsamt und stirbt, wenn er nicht den Regeln seiner Zwänge folgt.
Was die Ursachen für Zwangsstörungen sind, ist bis heute nicht abschließend geklärt, sagt Voderholzer. Aber die Unsicherheit und Angst auszuhalten, kann in einer Therapie erlernt werden. Zudem sei es wichtig, Betroffenen klar zu machen, dass ihr Zwangsverhalten nur kurzfristig Sicherheit bringe, langfristig aber die Zwänge verstärke.
Oliver Sechting lehnt jahrelang jegliche Hilfe ab. Erst ein neuer Lebenspartner kann ihn zu einem Therapieversuch überreden. Er lässt sich auf eine Verhaltenstherapie ein und nimmt Antidepressiva. «Danach ging es mir das erste Mal in meinem Leben besser.»
Sein langer Leidensweg hätte durch eine frühe Diagnose und Therapie verkürzt werden können. Denn: «Wenn Zwänge möglichst früh erkannt und behandelt werden, bestehen gute Erfolgschancen einer Therapie», sagt Prof. Falkai. Zudem ist Unterstützung von Freunden und Familie wichtig: «Angehörige sollten den Betroffenen möglichst vor Augen führen, wie stark der Zwang ihr gemeinsames Leben beeinträchtigt. Bemerkungen wie «du bist ja verrückt» sind kontraproduktiv.»
Oliver Sechting arbeitet heute als Sozialpädagoge. Nach wie vor ist er in therapeutischer Behandlung und hat immer wieder Erschöpfungsdepressionen. Seine Zwangsgedanken sind nicht verschwunden, aber er kann seinen Alltag bewältigen. 2014 dreht er mit einem Freund einen Dokumentarfilm, in dem er seine Zwänge offen thematisiert. Früher habe er die Zwangsgedanken als etwas Fremdes betrachtet. «Heute weiß ich, sie sind ein Teil von mir, für den ich mich nicht schämen muss. Akzeptanz heilt nicht, aber hilft.»
Fotocredits: Klaus-Dietmar Gabbert,Klaus-Dietmar Gabbert,Klaus-Dietmar Gabbert
(dpa)