Berlin – Die Online-Seiten mit Scheidungstipps hat Dorothea Möller* seit mehr als zwei Jahren gespeichert. Damals, mitten im Winter, ging nichts mehr.
Ihr Mann zahlte eine horrende Büromiete, ging aber nie in seine Anwaltskanzlei. «In drei Monaten verlor er fast zehn Kilo, stand lautstark um vier Uhr morgens auf und wich jeder Nachfrage oder Berührung aus», erinnert sich die 52-jährige Berlinerin. Als er davon redete, sich am liebsten vor die S-Bahn zu werfen, ging Dorothea Möller mit ihrem Mann noch am selben Tag zum Hausarzt.
Dort sprach sie offen ihren Verdacht auf eine Depression aus. «Warten Sie drei Monate, dann wird das besser. Bei dem Wetter ist doch jeder mies drauf», sagte der Arzt. Für alle Fälle gab er dem Paar die Nummer einer Psychologin.
Nichts wurde besser. Der Hausarzt vermutete später Sauerstoffmangel im Schlaf. Die Psychologin brauchte zehn Sitzungen, um kein Job-, sondern ein Partnerschaftsproblem in Betracht zu ziehen. Da war Dorothea Möller schon ausgezogen. «Ich habe jegliche Form von Partnerschaft vermisst und fühlte mich von meinem Mann völlig im Stich gelassen», sagt sie. Alle Gesprächsangebote habe er mit den Worten «Ich habe keine Depression» abgelehnt. Es dauerte ein Jahr, bis er aus eigenem Antrieb Hilfe bei einem Psychiater suchte und die Diagnose mittelschwere Depression erhielt. Da war er bankrott.
Es ist ein Beispiel von vielen, für das am 7. April der
Weltgesundheitstag unter dem Motto «Depression – Let’s talk» steht. Reden scheint dringend nötig. Denn noch immer sind Depressionen vielfach mit einem Tabu belegt – besonders bei Männern.
Die Zahlen sprechen eine ganz andere Sprache. Im Laufe eines Jahres erkranken nach Angaben der Stiftung Deutsche Depressionshilfe mehr als 5,3 Millionen Bundesbürger daran. Depressionen seien auch die häufigste Ursache der jährlich rund 10 000 Suizide in Deutschland. Nach einer Analyse des
Robert Koch-Instituts (RKI) zählen Depressionen zu den häufigsten psychischen Leiden in Deutschland. Sie machten weder Halt vor dem Alter noch vor dem sozialen Status.
«Psychische Erkrankungen haben etwas Unheimliches», sagt Ulrich Hegerl, Leiter der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Uniklinik Leipzig. Es verändere sich ja nicht nur ein Organ oder Körperteil, sondern das Innerste, das Selbst. Das sei für die Betroffenen kaum erträglich. «Das gleiche gilt aber auch für Angehörige, Freunde und Kollegen, die diese Veränderungen auch bemerken. Sie sind beunruhigt, weil sie es nicht verstehen.» Nicht-Verstehen heißt oft auch Nicht-Wissen. Eine Depression ist keine Reaktion auf schwierige Lebensumstände, Stress oder andere Probleme. «Es ist eine eigenständige schwere Erkrankung», betont Hegerl.
Viele verwechselten eine Depression jedoch immer noch mit «schlecht drauf sein». Oft treffe sie Menschen, die als Gesunde sehr verantwortlich und leistungsorientiert seien. Die Veränderungen der Persönlichkeit stellten Mitmenschen deshalb vor ein besonders großes Rätsel. Sätze wie «Nun reiß‘ dich mal zusammen» bewirkten aber nur noch größere Verzweiflung der Betroffenen. «Bei einer schweren Depression kann sich auch der disziplinierteste Mensch nicht am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen», sagt Hegerl. Mit professioneller Hilfe aber sei sie meist gut behandelbar.
Neigungen zu Depressionen können genetisch bedingt sein, aber auch durch traumatische Erlebnisse entstehen. «Die Veranlagung führt zu veränderten Hirnfunktionen, zum Beispiel zu stärkeren Reaktionen auf Stress unterschiedlichster Art», erläutert der Experte. Viele Botenstoffe im Körper, die den Schlaf steuerten, den Appetit, aber auch die Fähigkeit Freude oder Hoffnung zu empfinden, wirkten anders. Die Depression rückt alles Negative ins Zentrum des Erlebens und vergrößert es riesenhaft: Stress im Job, in der Partnerschaft oder auch körperliche Beschwerden.
Vorurteile gegenüber Depressionen sind tief verwurzelt. Doch Hegerl sieht Fortschritte. Die Krankheit werde heute häufiger erkannt. Es steige also nicht die Häufigkeit an sich, sondern die Zahl der Diagnosen. «Eine sensationell gute Entwicklung sind die sinkenden Suizidraten in Deutschland», sagt er. Ein gutes Zeichen sei auch, dass Prominente wie Adele oder Bruce Springsteen offen über ihre Erkrankung sprächen.
Dennoch kann es auch mit gutem Willen ein weiter Weg bis zum richtigen Arzt sein. «Depression ist die Erkrankung in unserem Gesundheitssystem mit dem größten Optimierungsspielraum», formuliert es Hegerl vorsichtig. Obwohl mit Antidepressiva und Psychotherapie gute Möglichkeiten zur Verfügung stünden, erhalte nur eine Minderheit der Patienten eine Behandlung nach den Leitlinien.
Dorothea Möller versucht bis heute, die Erkrankung ihres Mannes zu verstehen. Sie hat stapelweise Bücher darüber gelesen und mit anderen Betroffenen gesprochen. Nun vermeidet sie Druck, plötzliche Veränderungen und übt sich in Geduld. «Die Antidepressiva haben ihn ausgeglichener gemacht», sagt sie. Ihr Mann könne wieder arbeiten, aber maximal halbtags und ohne eigene Kanzlei. Doch einer Therapie verweigere er sich nach wie vor. «Er nennt die Depression eine Schwächephase», sagt sie. «So lange sich das nicht ändert, komme ich nicht zurück.»
Fotocredits: Julian Stratenschulte
(dpa)