Die zwei Gesichter des Alleinseins

Bremen/Kassel – «Das Alleinsein gehört zum Menschen dazu wie alles andere auch», sagt die Gesundheitspsychologin Sonia Lippke. Manche genießen dieses Gefühl und sind sich seiner Vorteile bewusst. Andere ertragen es kaum. «Aber Angst muss es einem nicht machen», so die Professorin, die an der Jacobs University Bremen unterrichtet.

Heute ist das Alleinsein ein neutraler Begriff, der oft auch positiv verwendet werden kann. «Das war im 18. und 19. Jahrhundert anders», sagt der Soziologe Janosch Schobin von der Universität Kassel. Damals waren Wortschöpfungen wie «mutterseelenallein» und Konjunktionen wie «ganz allein» gebräuchlich. Die Einsamkeit war dagegen eher positiv.

Die neue Rolle der Einsamkeit

«Heute hat sich das fast komplett gedreht», sagt Schobin. «Alleinsein wird viel stärker mit Autonomievorstellungen verbunden – alleineleben, selbstständig sein. Einsamkeit wird dagegen eher mit Mangelerfahrungen und dem Verlust von Autonomie assoziiert: Einsamkeit ist zu einer Art des Gefangenseins im Alleinsein geworden.»

Neueste Forschungen belegen, dass ein gewisses Maß an Alleinsein uns guttut. Es fördert zum Beispiel die Kreativität, die Konzentration und das Lernen. «Man hat mehr Zeit, sich mit sich selbst und Dingen auseinanderzusetzen und kann so neue Ideen entwickeln», sagt Lippke. «Es ist also eine Art Selbstreflexion.» Ist man dagegen ständig mit anderen zusammen oder läuft mit der Masse mit, stellt man nur schwer fest, was einen selber ausmacht und fördert.

Alleinsein hilft bei Selbstregulation

Durch das Alleinsein kann man sich auch selbst regulieren und vielleicht sogar etwas im Leben verbessern. Nimmt man sich vor, sportlicher zu werden, scheitert das oft am Alltag. «Aber im Alleinsein funktioniert die Selbstregulation besser, und zum Beispiel Rückenübungen können so wie geplant ausgeführt werden», erklärt Lippke.

Aber warum mögen dann manche das Alleinsein nicht? «Man muss das Positive sehen können», sagt Lippke. Manche sind sozial und suchen trotzdem das Alleinsein, als sozialen Detox sozusagen. Denn die vielen Reize im Alltag können überfordern. «Dann ist es gut, bewusst alleine zu sein. Ohne E-Mails oder Videokonferenzen.»

Einsamkeit ist dagegen ein Frühwarnsignal. «Im Leben gibt es Phasen, in denen wir uns eher einsam fühlen», sagt Lippke. Typischerweise tritt das Phänomen das erste Mal auf, wenn junge Menschen von daheim ausziehen. Doch das sind kurze Momente im Leben, die vorbeigehen. «Wichtig ist, es wahrzunehmen und als Impuls zu nutzen, dass man etwas ändern kann.»

Isolation hat viele Facetten

Nimmt man die Einsamkeit also wahr, kann man sie nutzen – indem man selbst etwas tut. «Man sollte bewusst Austausch und Begegnung suchen – ob medial vermittelt oder in Person, darauf kommt es nicht an», sagt Lippke.

Und ab wann gleitet man in die Isolation ab? «Es gibt keine feste Definition, ab wann jemand als sozial isoliert gilt», sagt Schobin. Nur beim Extremfall, wenn man keinerlei Kontakte und keine positiven Beziehungen mehr hat, sind sich die Wissenschaftler einig. «Das ist aber bei uns selten und tritt vor allem im Kontext des Strafvollzugs auf.»

Im Alltag ohne Gitter sind Menschen meistens nur teilweise isoliert – also zum Beispiel von Partnern, Kindern, Freunden oder gesamtgesellschaftlich abgeschnitten – aber fast nie von allen Gruppen zugleich.

Wann diese Teil-Isolation trotzdem in eine negative Einsamkeit umschlägt, hängt von vielen Faktoren ab – individuellen, situativen und kulturellen . «Man kann aber sagen: Fühlt sich jemand einsam, ist das bereits zu viel für diese Person.» Denn das Gefühl ist ein Zeichen: Da stimmt etwas mit meiner Einbindung in meine soziale Umwelt nicht.

Fotocredits: Christin Klose,Jacobs University Bremen,David Wüstehube
(dpa/tmn)

(dpa)
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