Berlin – «Es ging schon mit der Geburt los»: So klingt es, wenn Birgit Fröhlich beginnt, die Leidensgeschichte ihrer Tochter Hannah zu erzählen. Die 23-jährige Berlinerin leidet an sogenanntem POMC-Mangel, ihr fehlt das appetithemmende Hormon Proopiomelanocortin (POMC).
Hannah Fröhlich ist eine von nur 50 Patienten auf der Welt mit diesem Krankheitsbild – POMC-Mangel gehört damit zu den seltenen Erkrankungen. Laut Definition des deutschen Selbsthilfe-Dachverbands Achse liegt eine solche vor, wenn es unter 10 000 Menschen weniger als fünf Patienten gibt. Der «Welttag der Seltenen Erkrankungen» am 28. Februar soll mehr Aufmerksamkeit für die Betroffenen schaffen.
Bis zur Diagnose war es für Hannah, die wie die ganze Familie eigentlich anders heißt, ein weiter Weg. Sie kam im Sommer 1994 zur Welt, ihre Leber arbeitete nicht richtig. Bei Untersuchungen an der Berliner Universitätsklinik Charité wurde ein angeborener Cortisol-Mangel diagnostiziert. Dagegen bekam sie Hydrocortison. Bis heute nimmt sie das Mittel. «Es hat Hannah geholfen, zu überleben», sagt die Mutter, «doch ihr Leiden war damit nicht vorüber».
Schon als Baby nahm Hannah überdurchschnittlich schnell zu. Mit einem Jahr wog sie 20 Kilogramm, etwa vier Mal so viel wie Gleichaltrige. «Sie hatte immer Hunger, man konnte sie nie satt bekommen», erinnert sich Vater Christian. Die Familie versuchte, gegenzusteuern: Physiotherapie, Ernährungsberatung, Kuren. Vergeblich. Hannah wurde immer dicker und war in ihrer körperlichen Entwicklung verzögert.
Erst mit zwei Jahren lernte sie laufen. Immer wieder waren die Fröhlichs mit ihrer Tochter in der Charité – bis 1998 der Durchbruch kam. In der Sprechstunde der Pädiatrischen Endokrinologie, in der Kinder mit Hormonstörungen behandelt werden, wurde bei Hannah von einer Arbeitsgruppe unter Beteiligung von Heiko Krude ein noch nie zuvor beschriebenes Krankheitsbild diagnostiziert: POMC-Mangel.
«Die späte Diagnose wie bei Hannah ist ein Kernproblem unserer Arbeit», sagt Krude, der heute das Centrum für Seltene Erkrankungen an der Charité leitet. Für die seltenen Erkrankungen gebe es wenige Experten, die Diagnostik werde dadurch erschwert. Dabei sei das Problem weit verbreitet: «Die einzelne Erkrankung ist zwar selten – doch wenn man alle Patienten der Krankheitsgruppe zusammenzählt, kommt man auf etwa ein Prozent aller Menschen», sagt Krude
Die seltenen Erkrankungen decken die ganze Bandbreite der Medizin ab: von skelettalen Fußfehlbildungen über Augenerkrankungen bis zum POMC-Mangel. Häufig sind Gendefekte die Ursache. Der oft langwierige und frustrierende Weg zur Diagnose mit vielen erfolglosen Facharztbesuchen ist Heiko Krude zufolge nicht das einzige Problem der Patienten. Auch die Behandlung sei schwierig: «Es gibt häufig keine Medikamente, da die Entwicklung bei so wenigen Patienten für Pharmafirmen unattraktiv ist. Und oft nur wenige Ärzte, die eine Therapie durchführen können.»
Um die Versorgung von Patienten wie Hannah Fröhlich zu verbessern, tun sich Mediziner aus ganz Deutschland im Netzwerk «Translate Namse» zusammen. «Namse» steht für Nationaler Aktionsplan für Menschen mit seltenen Erkrankungen. Am Projekt beteiligt sind neun medizinische Zentren, unter anderem in Heidelberg, Essen, Bonn und Hamburg.
Bei Hannah Fröhlich dauerte es von der Diagnose bis zum Behandlungsbeginn 17 Jahre. Jahre, in denen die junge Frau stark mit ihrer Erkrankung zu kämpfen hatte. «Es war wie ein Horrorfilm: Ich war esssüchtig, nahm immer weiter zu und nichts hat geholfen.» Eine normale Kindheit und Jugend hatte Hannah, die am Ende um die 170 Kilogramm wog, nicht. «Ich hatte nur wenige Freunde und konnte bei fast nichts mitmachen.» Eine Operation des Magens wurde nicht durchgeführt, um die Möglichkeit einer medikamentösen Behandlung offenzuhalten.
Seit dem 1. Januar 2015 nimmt Hannah Fröhlich an einer Studie mit einem neuen Medikament aus den USA teil. Diese wird am Institut für Pädiatrische Endokrinologie der Charité von Peter Kühnen durchgeführt und soll den seltenen Defekt der Essregulation beheben sowie das übermächtige Hungergefühl blockieren.
Schon nach wenigen Wochen ging es der 23-Jährigen besser, die ersten Kilos purzelten schnell. «Wenn man sein ganzes Leben lang immer Hunger hat und plötzlich nicht mehr, ist das wie ein Traum», sagt die 23-Jährige. Mittlerweile ist sie normalgewichtig, kann Sport treiben, hat viele Freunde. Kürzlich hat sie ihre Ausbildung zur Kauffrau für Büromanagement abgeschlossen. Auch für die Familie ist die erfolgreiche Behandlung der Tochter ein Neuanfang: «Da ist wie ein Wunder», sagt Mutter Birgit. «20 Jahre lang waren wir nur auf diese Krankheit ausgerichtet, jetzt sind wir erleichtert und befreit.»
Ihr Gendefekt wird Hannah allerdings ihr Leben lang begleiten. Jeden Tag spritzt sie sich das Medikament in den Oberschenkel – «man gewöhnt sich dran», sagt sie. Dazu kommt die tägliche Dosis Hydrocortison. Nebenwirkungen gibt es nur wenige: Ihre Haare seien dunkler geworden durch das Medikament – vorher waren sie rot, jetzt braun. Und bei Infekten muss Hannah besonders aufpassen. Sie ist weiterhin in der Charité in Behandlung, etwa ein Mal pro Monat ist sie für Folgeuntersuchungen dort. Hannah ist trotzdem glücklich: «Es ist ein ganz neues Leben.»
Fotocredits: Janne Kieselbach
(dpa)