Washington – Als Ärzte das Gehirn des früheren Football-Stars Aaron Hernandez (27) in feine Scheiben sezieren, bietet sich ihnen einen gruseliges Bild: Weite Teile des äußerlich normal aussehenden Hirns sind im Inneren löchrig und stark beschädigt.
Chronische traumatische Enzephalopathie (CTE) dritten Grades lautet die Diagnose der Experten vom
CTE-Center der Boston University. Hernandez hatte sich im April in einer Gefängniszelle das Leben genommen, wo er eine lebenslange Haftstrafe wegen Mordes verbüßen sollte. Derart heftige Schäden habe sie zuvor nur bei wesentlich älteren Menschen gesehen, betonte die Leiterin des CTE-Centers, Ann McKee.
CTE, eine schwere degenerative Hirnerkrankung, kommt oft bei Menschen vor, die viele Gehirnerschütterungen oder Schläge auf den Kopf erlitten haben. Lange war sie deshalb vor allem als Boxer-Enzephalopathie bekannt. Aber seit einigen Jahren ist klar, dass auch andere Kontaktsportarten betroffen sind, vor allem American Football. Viele Ex-Spieler leiden an Gedächtnisschwund, Wutausbrüchen, Depressionen oder Demenz. Bei mehr als 100 wurde nach ihrem Tod CTE diagnostiziert, einige davon hatten sich das Leben genommen.
Im Detail heißt CTE: Teile des Frontallappens, der für Entscheidungen und Impulskontrolle wichtig ist, sind mit abgelagerten sogenannten Tau-Proteinen überzogen. Hirnventrikel – mit Hirnwasser gefüllte Hohlräume – sind erweitert. Der für das Gedächtnis wichtige Hippocampus ist geschrumpft. Und der Mandelkern, der Gefühle, vor allem Angst managt, ist stark beeinträchtigt.
«Wir können das Verhalten nicht aus der Pathologie erklären», sagte McKee
laut «Washington Post» bei der Präsentation der erschreckenden Ergebnisse. «Aber wir können sagen, dass Individuen mit CTE – und CTE von dieser Schwere – insgesamt in unserer kollektiven Erfahrung Schwierigkeiten mit Impulskontrolle, Entscheidungsfindung, der Hemmung von Aggressionen, emotionaler Labilität und Wutanfällen haben.»
Das galt auch für Hernandez, der seit seiner High-School-Zeit nicht nur als Football-Talent auffiel, sondern ebenso durch impulsives Verhalten, später Drogen- und Gewaltdelikte. Auch ein 40-Millionen-Vertrag bei den Patriots hielt ihn nicht auf der geraden Bahn.
Eines macht McKee besondere Sorgen: «Wir sehen eine Beschleunigung der Krankheit bei jungen Sportlern. Ob das daher kommt, weil sie aggressiver spielen oder weil sie jünger anfangen, wissen wir nicht.»
Dies treibt seit einiger Zeit auch viele Eltern in den USA um. Obwohl die Regeln nicht nur bei Erwachsenen, sondern auch in vielen Kinder- und Jugendligen angepasst sind, zögern viele Eltern, ihre Kinder überhaupt noch Football spielen zu lassen. Aber auch Sportarten wie Fußball sind von der wachsenden Sorge betroffen. Denn Gehirne von Heranwachsenden reagieren besonders sensibel auf Erschütterungen.
Neue Erkenntnisse, die Forscher vor einigen Tagen auf dem Jahrestreffen der Gesellschaft für Neurowissenschaften in Washington vorstellten, unterstreichen das. Eine Studie der McMaster University (Ontario) zeigt, dass nicht nur Gehirnerschütterungen, sondern schon leichtere Stöße gegen den Kopf die Gedächtnisleistung zeitweise messbar verschlechtern.
Dazu ließ Forscherin Melissa McCradden Football-, Fußball- und Rugby-Spieler drei Erinnerungstests am Computer machen. Ergebnis: Während der Saison konnten sich sämtliche Spieler schlechter erinnern als vor der Saison oder in der Erholungsphase danach. Die Ergebnisse stünden jeweils im Zusammenhang mit der aktuellen Fähigkeit des Gehirns, neue Neuronen zu bilden, folgert McCradden.
Kritische Nachrichten gab es zudem für den Mädchen- und Frauenfußball: Spielerinnen tragen demnach nach Kopfbällen offenbar mehr neuronale Schäden davon als ihre männlichen Kollegen. Forscher des Albert Einstein College of Medicine (Bronx) untersuchten dazu mit einem bildgebenden Verfahren die Gehirne von je 49 Spielerinnen und Spielern. Ergebnis: Mehr Kopfbälle verschlechterten bei beiden Geschlechtern die Leitfähigkeit von Nervenfortsätzen (Axonen) – bei den Männern aber nur in drei Hirnregionen, bei den Frauen in acht und zumeist auch anhaltender. Die Gründe dafür sind noch unklar.
Verbände reagieren bereits – unterschiedlich konsequent allerdings: In den USA schreibt die US Soccer Federation seit 2015 vor, dass Kinder unter 10 Jahren überhaupt keine Kopfbälle machen dürfen. Zwischen 11 und 13 Jahren ist das im Spiel erlaubt, aber im Training verboten. Der Deutsche Fußballbund macht bisher keine Vorgaben – rät aber, erst mit 13 oder 14 Jahren mit dem Kopfballtraining anzufangen, wenn die Nacken- und Kopfmuskulatur kräftiger ist.
Eine breite Diskussion beginnt erst zögerlich. Noch gibt es Bilder wie das vom jungen Nationalspieler Christoph Kramer, der 2014 im WM-Endspiel gegen Brasilien mit Gehirnerschütterung von den Ärzten aufs Spielfeld zurückgeschickt wird und dort herumtaumelt.
Fotocredits: Steven Senne
(dpa)