Berlin/Hannover (dpa) – Blinde und stark sehbehinderte Menschen können nach Feierabend nicht einfach ins Auto springen, wenn die Milch im Kühlschrank ausgegangen ist. Shopping war für Thomas Kahlisch früher kaum ohne Begleitung eines Sehenden möglich.
Der 54-Jährige aus Leipzig ist seit seinem 14. Lebensjahr blind. Doch seit kurzem sind Spontankäufe kein Problem mehr. Dafür nutzt er die App der Supermarktkette Rewe, sucht die Lebensmittel bequem zu Hause auf dem Sofa aus und lässt sie nach Hause liefern. Das Smartphone ist für Kahlisch ein unverzichtbarer Begleiter – «mein digitales Schweizer Taschenmesser», wie er im Vorfeld des
Sehbehindertentages am 6. Juni sagt.
Der Informatiker ist ein viel beschäftigter Mann – als Leiter der Deutschen Zentralbibliothek für Blinde zu Leipzig sowie ehrenamtlich als Präsidiumsmitglied des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes (DBSV). Während einer Tagung im Landesbildungszentrum für Blinde in Hannover checkt er in Sitzungspausen seine E-Mails. Dies geht dank der für Nicht-Sehende revolutionären VoiceOver-Technologie in Sekundenschnelle. Eine weibliche Stimme liest die E-Mails vor, und Kahlisch befiehlt teils schon bei den ersten Worten der Betreff-Zeile: «Löschen!»
Die integrierte Sprach-Funktion in Smartphones und Tablets erleichtere den Alltag ungemein, meint der Honorarprofessor an der Universität Leipzig. «Man wird mobiler, traut sich mehr zu und wird eigenständiger.» Gleichzeitig betont Kahlisch: «Ohne weißen Stock bin ich verloren.» So könnten Navigations-Apps ihm zwar sagen, in welcher Straße vor welcher Hausnummer er steht, aber nicht, ob sich dort ein Laternenpfahl oder eine schlecht gesicherte Baustelle befindet.
Inzwischen gibt es mehr als hundert Apps, die blinden und sehbehinderten Menschen helfen. Niemand muss mehr große Lupen oder Bildschirmlesegeräte mit sich herumschleppen. «Ich hätte früher nicht geglaubt, dass ein Blinder einen Touchscreen bedienen kann», sagt Franz Rebele, der noch etwa fünf Prozent Sehleistung hat. Der 77-Jährige macht in Berlin sehbehinderte Senioren in Kursen für die digitale Welt fit. Häufig nutzt Rebele die App «KNFB Reader», die gedruckte Texte in Sprachausgaben umwandelt – etwa, wenn er in einem schlecht beleuchteten Restaurant die Speisekarte oder in einer Bibliothek eine Informationstafel lesen möchte.
Während in der Vergangenheit nur wenige Bücher in Brailleschrift für Blinde zugänglich waren, können Romane und Sachbücher jetzt von einem E-Reader vorgelesen werden. «Bei vielen digitalen Anwendungen gibt es allerdings noch Entwicklungsbedarf», sagt Kahlisch. «Den E-Book-Reader hätten wir gerne barrierefrei.» Derzeit lasse sich zwar die Schrift des Buches, aber nicht die Menüleiste beliebig vergrößern.
Am diesjährigen Sehbehindertentag steht zudem das Thema «Hörfilmempfang» im Mittelpunkt. Die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender bieten inzwischen bei vielen Filmen zusätzliche Beschreibungen von Gestik, Mimik oder Ausstattung für Blinde und Sehbehinderte an. Dies genügt nicht, meint Kahlisch: «Der DBSV wünscht sich, dass sich die Verkaufsberater in Elektromärkten und Fachgeschäften besser in das Thema einarbeiten und den Kunden bei der Einrichtung der Audiodeskription helfen.»
Blinde und Sehbehinderte in Zahlen
Die Zahl der Blinden und Sehbehinderten in Deutschland wird nach unterschiedlichen Schätzungen mit 650 000 bis 1,2 Millionen angegeben. Ein Mensch gilt als sehbehindert, wenn er mit Brille auf keinem Auge 30 Prozent der normalen Sehkraft erreicht. Sind es weniger als zwei Prozent, ist er blind. Zum Tag der Sehbehinderten am 6. Juni weisen der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) sowie andere Organisationen auf die Bedürfnisse von Menschen mit Seheinschränkungen hin.
Fotocredits: Soeren Stache
(dpa)